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Ein verschwundenes Steinkreuz
am Weg von Selb nach Mittelweißenbach

Werner Honig

In der Selber Stadtbücherei wird die Kopie eines Buches von Ludwig Rieß verwahrt, das im Jahr 1900 unter dem Titel „Die Stadt Selb in ihrer Gegenwart, Vergangenheit und im Sagenkreis“ erschienen ist. Im 3. Teil dieses Buches beschäftigt sich Rieß mit dem Sagenkreis von Selb und Umgebung, u.a. mit dem so genannten „Weißenbacher Kreuz“. Rieß schreibt dazu: „An der Distriktstraße von Selb nach Marktleuthen findet sich, 20 Minuten westlich von Selb, an der Stelle, wo zu unserer Linken die Fahrstraße nach Mittelweissenbach abzweigt, auf der Wiese ebenfalls ein steinernes Kreuz. Von diesem Weissenbacher Kreuz erzählt man sich eine Episode, die an die Idee von Schillers Braut von Messina erinnert: Zwei Brüder hatten Neigung zu einem Mädchen im nahen Dorfe Unterweissenbach gefasst, ohne zu ahnen, dass jeder in seinem eigenen Bruder einen Rivalen finde. Es währte jedoch nicht lange, so entdeckten sie diesen Umstand. Nachdem der jüngere gegenüber seinem älteren Bruder als der Bevorzugte erschien, kam es bald zu heftigen Scenen zwischen denselben, die damit endeten, dass der jüngere von seinem älteren Bruder an der Stelle, wo jetzt das Kreuz steht, erschlagen wurde. Der Mörder entleibte sich selbst.“

Diese Angaben ergänzte dann Dr. Ludwig Rieß in seiner im Jahr 1949 erschienenen zweiten Ausgabe seines Werkes, dass er unter dem Titel „Selber Heimatbuch“ herausbrachte mit dem Hinweis, dass es sich bei dem erwähnten Steinkreuz um ein ursprünglich 105 cm hohes Kreuz handelte, das durch ein Lastfuhrwerk allerdings schwer beschädigt worden ist.

Immerhin stand dieses Kreuz an der Straßenabzweigung nach Mittelweißenbach mindestens bis 1970. Rainer H. Schmeissner weist in seiner Veröffentlichung „Steinkreuze im Sechsämterland“ darauf hin, dass zu diesem Zeitpunkt das Steinkreuz gefährdet war. Die Heimatpfleger des Landkreises Rehau und der Stadt Selb bemühten sich um den Erhalt des Kreuzes. Irgendwann ist es dann aber verschwunden, wohl in Zusammenhang mit dem Ausbau der damaligen Bundesstraße 15. Auf einem alten Foto können wir das Steinkreuz im beschädigten Zustand sehen, so wie es sich dem Betrachter etwa 1962 darbot.

Dr. Rieß hat uns die Sage mitgeteilt, die mit diesem Steinkreuz verbunden ist. Nun handelt es sich bei Sagen um Geschichten, die zum Teil über Jahrhunderte den Enkeln von ihren Großeltern erzählt wurden und man fragt sich: Gibt es einen realen Hintergrund oder handelt es sich um Märchen? Trifft es zu, dass im Zusammenhang mit Mord und Totschlag Steinkreuze aufgestellt wurden? Rainer H. Schmeissner hat sich umfassend mit der Materie beschäftigt und schreibt dazu, dass die Gepflogenheit, einen Totschlag durch friedliche Vermittlung aller Betroffenen zu sühnen, indem ein „Sühnekreuz“ gesetzt wurde, bis etwa ins ausgehende 13. Jahrhundert zurückreicht.

Im Mittelalter und möglicherweise noch in den Zeiten davor war ein Totschlag, der im Affekt geschah, eine Privatangelegenheit, die nur bedingt der richterlichen Gewalt unterlag. Wenn es dem Täter gelang, sich mit den Hinterbliebenen des Opfers auf gütlichem Weg zu einigen, dann erfolgte keine Strafverfolgung seitens der Behörde. Allerdings musste ein Sühnevertrag ausgehandelt werden. Ein solcher Sühnevertrag umfasste in der Regel eine Reihe von Maßnahmen. Wichtig war vor allem die materielle Versorgung von Hinterbliebenen des Opfers. Aber auch für das Seelenheil musste einiges getan werden. War doch das Opfer ohne Erhalt der Sterbesakramente ins Jenseits eingegangen. Das Lesenlassen von Messen und Wallfahrten zu Gnadenorten gehörten zu den auferlegten Bußen. Und auch das Setzen eines Sühnekreuzes. Dieses Kreuz sollte der eigenen Buße dienen, aber auch zum Seelenheil des Getöteten beitragen. Jeder, der an einem solchen Kreuz vorbeikam, betete ein Vaterunser für das Opfer. Deshalb wurden Sühnekreuze nicht nur am Ort der Tat, sondern gerne auch an Wegkreuzungen und –gabelungen aufgestellt, weil dort ja besonders viele Passanten vorbeikamen.

Für das Setzen des Steinkreuzes von Mittelweißenach schient also der von Dr. Rieß mitgeteilte Anlass durchaus zuzutreffen. Der Täter konnte aber in diesem Fall nicht mehr selbst für das Setzen des Sühnekreuzes herangezogen werden, denn „er entleibte sich selbst“, wie die Sage uns das schön mitteilt. Wer veranlasste aber dann das Setzen eines Sühnekreuzes? In der Sagensammlung von Andreas Reichold finden wir die Aufklärung. Dort heißt es: „Das Steinkreuz ließen die trauernden Eltern errichten, um die Vorübergehenden zu veranlassen, für die beiden toten Söhne ein Vaterunser zu beten.“ Die beiden hätten für die Eltern einmal die Stütze im Alter sein sollen.

Literatur:
Reichold Andreas: Sagen aus Bayerns Nordostgebieten, Hof/Saale 1960
Rieß Ludwig: Die Stadt Selb in ihrer Gegenwart, Vergangenheit und im Sagenkreis, Selb 1900
Schmeissner Rainer H.: Steinkreuze im Sechsämterland, Wunsiedel 1980
Schmeissner Rainer H.: Steinkreuze in der Oberpfalz, Regensburg 1977


Das Weißenbacher Steinkreuz aus der Zeit um ca. 1962

 

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